Gemeinsam mit Marcel Mansouri, Björn Thoroe und einem weiteren Genossinnen und Genossen habe ich folgenden Antrag an den Landesparteitag der LINKEN in Schleswig-Holstein am kommenden Wochenende gestellt. Wenn der Text so beschlossen wird, geht er als Antrag des Landesverbandes an den nächsten Bundesparteitag.
Eine Vision für Europa entwickeln!
(1) DIE LINKE lehnt eine Gleichsetzung des Regimes der Austerität mit dem Projekt der Europäischen Integration ab.
(2) DIE LINKE tritt entschieden für die Europäische Integration ein und versteht sich als radikal pro-europäische Partei. Aber sie definiert als Leitbild dieses Projektes ein solidarisches, demokratisches, ökologisches und friedliches Europa und steht damit im Widerspruch zum herrschenden Elitenprojekt, welches Europa von oben nach dem Leitbild des autoritären Neoliberalismus umformen will.
(3) Der Parteivorstand wird eine Arbeitsgruppe einrichten, die im Einklang mit den europapolitischen Leitlinien des Erfurter Programms sowie der aktuellen Wahlprogramme zum Bundestag und zum Europäischen Parlament, eine kohärente europapolitische Vision entwerfen soll. Es geht konkret um die Ausarbeitung eines alternativen Institutionensystems für Europa. Dieser Entwurf dient als Grundlage für eine innerparteiliche Diskussion über die Zukunft Europas.
In der Arbeitsgruppe können Genossinnen und Genossen aus bereits bestehenden Europa-AGs zusammenkommen. Auch die europapolitischen Sprecherinnen und Sprecher der Fraktionen, Mitglieder des Europäischen Parlaments sowie Mitglieder der parlamentarischen Versammlung des Europarates sollen in dieser AG vertreten sein. Zudem soll die AG allen interessierten Genossinnen und Genossen offen stehen.
Begründung
Im globalen Kapitalismus sind die Lebens- und Arbeitsumstände der Menschen weltweit vernetzt und interdependent. Linke Politik kann nicht an Landesgrenzen aufhören. Aus unserer internationalistischen Tradition heraus ist das Projekt der Europäischen Integration grundsätzlich zu begrüßen und zu unterstützen. Wobei linke Politik selbstverständlich auch nicht an den Grenzen Europas aufhört.
Dass DIE LINKE die neoliberale Umgestaltung Europas ablehnt, darf nicht heißen, Europa insgesamt abzulehnen. Die Europäische Union ist zu einem Zeitpunkt gegründet worden, als der Neoliberalismus weltweit die unangefochtene Hegemonie erreicht hatte. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs konnten die neoliberalen Kräfte die allgemeine Euphorie dazu nutzen, ihre Agenda gegen Sozialstaat und Beschäftigte ohne großes Aufsehen als die Agenda der Zukunft auszugeben und durchzusetzen.
Mit dem Vertrag von Maastricht ist es der herrschenden Klasse gelungen, ihre partikularen Ziele zur Umgestaltung Europas in einen Vertrag mit Verfassungscharakter einzubringen. Der Politikwissenschaftler Steven Gill nennt das den „neuen Konstitutionalismus“. Damit ist gemeint, dass Kräfte, die hegemonial werden versuchen, ihre partikulare Agenda in Verfassungen zu verankern, damit auch im Falle von Regierungswechseln die Möglichkeit eines Politikwechsels drastisch erschwert wird. Diese Strategie ist auch bei den Folgeverträgen bis hin zum Fiskalvertrag verfolgt worden, der die Austeritätspolitik so absichert, dass im Falle von Regierungswechseln in den Einzelstaaten eine Abkehr von dieser Politik tendenziell unmöglich wird.
Die Strategie der herrschenden Klasse ist es, ihre partikulare Politik als den Inbegriff der Europäischen Integration auszugeben, womit sie alle, die diese Agenda ablehnen, als anachronistisch, nationalchauvinistisch und anti-europäisch brandmarken und marginalisieren können. Vor einer solchen Strategie darf DIE LINKE nicht kapitulieren.
Die LINKE hat den Lissabon-Vertrag wie auch vorher den Verfassungsvertrag zu Recht abgelehnt, da er sich mit unseren Überzeugungen nicht vereinen lässt. Dennoch ist der Vertrag von Lissabon geltendes Recht und steht wichtigen politischen Vorhaben im Weg, wie z.B. der Regulierung des internationalen Kapitalverkehrs oder einer Kursänderung der Europäischen Zentralbank samt einer institutionellen Reform hin zu einer demokratischen Kontrolle und Rechenschaftspflicht.
Das bedeutet aber nicht, an diesem Punkt stehen zu bleiben. Oft genug wird uns vorgeworfen als Partei vieles abzulehnen, ohne „bessere“ oder „realisierbare/finanzierbare“ Vorschläge anzubieten. Nicht nur bei der Ablehnung der Bankenrettungsschirme ESFS und ESM sowie dem Fiskalvertrag, schon die Ablehnung des Verfassungsvertrages sowie des Vertrags von Lissabon brachte unserer Partei in der bürgerlichen Presse den Stempel der Europafeindlichkeit ein. Mittlerweile wird DIE LINKE in der Öffentlichkeit mit der AfD gleichgesetzt. Selbstverständlich ändert unsere Partei ihre Programmatik nicht wegen irgendwelchen vulgären Verleumdungskampagnen, die in aller Regelmäßigkeit gegen uns geführt werden. Aber über eine kohärente europapolitische Vision nachzudenken ist unabhängig von der öffentlichen Debatte eine schlichte politische Notwendigkeit, wenn wir unsere Wahlprogramme zum Deutschen Bundestag und zum Europäischen Parlament ernst nehmen. Nicht wenige prominente Punkte sind ohne Änderungen der europäischen Verträge schlicht nicht möglich.
Deswegen erachten wir es für überaus wichtig, ein tragfähiges und gut begründetes Gegenkonzept für Europa zu entwerfen. Dieses kann nur durch einen Prozess der Analyse und Diskussion von der Basis hin zur Spitze entstehen. Dann – und nur dann – steht es auf einem Fundament, getragen von Wissen, Erfahrungen und Visionen vieler Menschen, aus den verschiedensten Ländern, Klassen und Lebensrealitäten.
Dass Europa, bedingt durch die sich verschärfende Krise, auch zunehmend in die öffentliche Wahrnehmung gerät, hat uns die vergangene Bundestagswahl deutlich gezeigt. Dabei wird von der einen Seite nach einem starken Europa mit rigidem Spardiktat verlangt, dass befugt und willens ist, demokratisch gewählte Parlamente und ihre Entscheidungen zu annullieren. Auf der anderen Seite erstarken aber auch die national-konservativen Stimmen, die in Deutschland in der AfD ihren Ausdruck finden. Eine Klarstellung der eigenen Agenda ist für die gesamte europäische Linke von nicht zu unterschätzender Bedeutung, um für die Menschen, die wir noch überzeugen wollen, den Unterschied sowohl zu den Neoliberalen, als auch zu den Nationalisten verständlich zu machen.
Zu einem Zeitpunkt, wo selbst Teile der CDU/CSU mit europakritischen Ressentiments Stimmung machen, ist es wichtig, eine radikal pro-europäische Position einzunehmen, bei gleichzeitiger Ablehnung der derzeitigen Strukturen der Europäischen Union. Um diesen Spagat glaubwürdig vermitteln zu können, reichen die europapolitischen Fragmente in unseren Programmen nicht aus. Wir müssen einen eigenen konkreten Entwurf zu einem sozialen, demokratischen, ökologischen und friedlichen Europa in die öffentliche Debatte einbringen.
Diese Vision wird nicht kurz- oder mittelfristig realisierbar sein. Sie gewinnt ihren Wert daraus, dass sie unserer Partei einen europapolitischen Kompass bietet, an dem wir uns auch bei kleineren Reformen und möglichen Verbesserungen orientieren können: bewegen wir uns mit einer möglichen Zustimmung zu einzelnen EU-Reformen auf diese Version zu oder von ihr weg?
Die Frage einer Vertragsänderung wird mittelfristig ohnehin auf die Agenda kommen. Merkel hat bereits angekündigt, dass sie härtere Durchgriffsrechte für die Kommission gegen die Einzelstaaten wünscht. Das läuft unter der Überschrift „mehr Europa“. DIE LINKE ist nicht gegen „mehr Europa“. Aber sie ist gegen „mehr Austerität, mehr Elend und weniger Demokratie“, was die tatsächliche Überschrift von Merkels Agenda ist. Deshalb müssen wir in der Lage sein, einen eigenen Gegenentwurf einzubringen, und insbesondere SPD und Grüne herauszufordern: sie haben dann nicht mehr die Option pro-europäisch (also pro Austerität und gegen Demokratie) abzustimmen, um uns dann Europafeindlichkeit und Populismus vorzuwerfen, sondern müssen sich dann zwischen autoritärem Neoliberalismus und demokratischem Neuanfang entscheiden. Vor allem müssen sie ihre Entscheidung in der Öffentlichkeit rechtfertigen.
Um dahin zu kommen, ist es wichtig, dass wir jetzt einen innerparteilichen demokratischen Willensbildungsprozess in Gang setzen, der es uns ermöglicht in dieser Debatte, wenn es dann soweit ist, positiv intervenieren zu können.
Wir betonen, dass wir pro-europäisch sind, aber Europa nicht als Ersatznationalismus oder als Vehikel für imperialistische Ziele, welche im Rahmen des Nationalstaates nicht mehr zu erreichen sind, akzeptieren. Europa braucht eine linke Vision. Wir stehen als politische Alternative zu den neoliberalen Parteien in der Pflicht, ein Europa zu entwerfen, was von den Menschen nicht länger als Bedrohung empfunden wird, sondern als Hoffnung und als Versprechen. DIE LINKE ist nicht eine Alternative für Deutschland, sondern eine Alternative für Europa!
Die unter 3) geforderte Arbeitsgruppe ist bewusst inkludierend angelegt. Obgleich von einem Willensbildungsprozess von unten nach oben die Rede ist, ist es durchaus kein Widerspruch zu einer zentralen AG, die im Karl-Liebknecht-Haus angesiedelt ist. Die zentrale Verankerung soll lediglich eine Zuordnung von Verantwortung gewährleisten. Der Willensbildungsprozess kann und soll gerne auf Länderebene, auf Kreisebene, in kleineren bzw. schon bestehenden AGs begleitet werden. Letztlich wird ein möglicher Entwurf ohnehin in der gesamten Partei diskutiert werden, und für einen Beschluss gelten in unserer Partei hohe Hürden.
Es dürfte unstrittig sein, dass die AG einen langen Diskussionsprozess durchlaufen wird, bevor die ersten Entwürfe präsentiert werden können. Auch dürfte einleuchten, dass die Frage nach einem anderen Europa einen strömungsübergreifenden Konsens erfordert. Wenn wir als LINKE in Deutschland ein gemeinsames Ergebnis erreichen können, ist das ein gutes Beispiel für die Europäische Linke, wo die Diskussionsprozesse aufgrund der Pluralität und der unterschiedlichen politischen Kulturen noch schwieriger werden dürfte.
Schlussendlich ist noch anzumerken, dass ein solcher Prozess, bloß weil die Dauer nicht abzuschätzen und ein Erfolg keineswegs garantiert ist, nicht beliebig oft vertagt werden kann. Wir befinden uns fortwährend in Abwehrkämpfen gegen eine Vertiefung der neoliberalen Integration und gegen Sozial- und Demokratieabbau. Zusätzlich ist die EU in ihrer gegenwärtigen Form offenbar nicht in der Lage, mit der Krise fertig zu werden. Seit 2010 gibt es einen „EU-Gipfel“ nach dem anderen, und trotzdem verschlechtert sich die Situation in den Südländern fortwährend. Da die EU gegenwärtig in eine tiefe Legitimationskrise schlittert, wird es Zeit, das Thema Europa endlich konsequent zum Gegenstand unserer Agenda zu machen. Die Einrichtung einer solchen Arbeitsgruppe allein reicht dafür nicht aus. Es muss in unserer Partei das Bewusstsein entstehen, dass Europa sich nicht ändern wird, wenn wir dafür nicht kämpfen. Europa darf nicht länger etwas sein, womit man sich nur beschäftigt, wenn man gerade muss. Wir müssen die treibende Kraft werden, die einen demokratischen Aufbruch in Europa immer wieder auf die Tagesordnung setzt.
Update 2.12.2013
Der Antrag wurde mit geringfügigen Änderungen von einer breiten Mehrheit des Landesparteitages angenommen.