Broschüre mit der Aufschrift "Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland", darüber der Bundesadler.

70 Jahre Grundgesetz: Zeit für ein Update?

Vor nunmehr 70 Jahren hat der Parlamentarische Rat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Seitdem hat die Verfassung zahlreiche Änderungen gesehen, ist im Kern aber die langlebigste und trotz alledem auch am besten funktionierende Konstitution eines deutschen Staatswesens in der Neuzeit.

Immer wieder ist das Grundgesetz bzw. die enthaltenden Grundrechte und -regeln Angriffen ausgesetzt — nicht etwa von Außen, sondern von Regierungen und Bundestags-Mehrheiten. Die Fülle an entsprechenden Urteilen des Bundesverfassungsgerichts (übrigens eine „Erfindung“ des Grundgesetzes und 1949 beispiellos!) belegt inzwischen mehrere Regal-Kilometer. Wer den aktuellen Jahresbericht des sogenannten „Verfassungsschutz“ in Sachsen liest, kommt nicht umhin dass Max Reimann, Mitglied des Parlamentarischen Rates für die KPD, Recht behalten könnte:

„Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben.“

Max Reimann (KPD)

Gerade erst hat die FDP eine Debatte zur Änderung des Grundgesetzes angestoßen: Sie würden gerne Artikel 15 streichen, welcher die Vergesellschaftung von Grund und Boden sowie Produktionsmitteln vorsieht, weil dieses „nicht mehr zeitgemäß“ sei. Aus ähnlicher Richtung kommt der Verstoß, die sogenannte „freie soziale Marktwirtschaft“ ins Grundgesetz zu schreiben — obwohl dieses ganz bewusst auf die Vorfestlegung einer Wirtschaftsordnung verzichtet hat, sehr zum Verdruss marktradikaler Fundamentalisten.

Mit dem Grundgesetz in die Zukunft?

Erlaubt sein muss aber in der Tat die Frage: Reicht das bestehende Grundgesetz für die Zukunft aus? In was für einer Gesellschaft und unter welchen Rahmenbedingungen wollen wir leben?

Zur Wiedervereinigung wurde die Chance verpasst, eine neue gesamtdeutsche Verfassung zu erstellen (für die es damals sehr interessante Vorschläge gab) und der Weg des Beitritts der Länder der DDR zum „Geltungsbereich des Grundgesetzes“ gemäß des damaligen Artikel 23 gewählt.

Es gibt Dinge, die im Grundgesetz fehlen oder die (wieder) präziser gefasst werden sollten — zumindest meiner bescheidenen Meinung nach. Ob hierzu eine komplett neue Verfassung nötig wäre, ist dabei nicht die primäre Frage. Auch eine entsprechende Änderung und Ergänzung der geltenden Verfassungsartikel im Grundgesetz würde zum Ziel führen.

Soziale Grundrechte

Women Power (Frau vor rotem Hintergrund zeigt die Muskeln ihres rechten Arms)Was dem Grundgesetz (anders als der Weimarer Verfassung) von Anfang an fehlte, sind soziale Grundrechte. Zwar erklärt Artikel 20 die Bundesrepublik eindeutig zu einem Sozialstaat, was sogar durch die sogenannte Ewigkeitsklausel gegen jegliche Änderung geschützt ist, unmittelbar geltende Ansprüche für die Staatsbürger*innen sind damit aber nicht verbunden — wie der fortschreitende Sozialabbau der vergangenen Jahrzehnte bitter gelehrt hat. Was nützt das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der eigenen Wohnung, wenn man keine eigene Wohnung hat? Was die freie Wahl des Berufes, wenn es keine Arbeit gibt?

Freiheit ist von materiellen Bedingungen abhängig, ansonsten bleibt sie ein abstrakter Begriff auf dem Papier. Es braucht ein Grundrecht auf eine eigene Wohnung, auf Gesundheitsversorgung, auf Arbeit, auf kostenfreie Bildung und Ausbildung. Ansonsten verkommt Sozialstaatlichkeit (weiterhin) zur reinen Almosengewährung und ist (auch weiterhin) der Gnade wechselnder politischer Mehrheiten ausgeliefert.

„Aber die Finanzierbarkeit!“, werden dann wieder viel schreien. Eine derart reiche und produktive Gesellschaft wie die Bundesrepublik Deutschland aber kann sich die bedingungslose Einlösung sozialer Grundbedürfnisse für alle hier lebenden Menschen allerdings problemlos leisten — zumal dann, wenn endlich die Bevorzugung des Profitstreben als Maßstab politischen Handelns beendet wird. Mit einem gerechteren Steuersystem, welches die Bevorzugung von Kapitaleinkünften und großen Vermögen beseitigt, wären sowohl höhere Sozialausgaben als auch dringend notwendige Zukunftsinvestitionen ohne weiteres zu finanzieren.

Andere werden sich dann empören: „Aber das freie Unternehmertum!“ . Hierzu war in der Weimarer Verfassung eigentlich schon alles gesagt (und auch dort ohne Vorfestlegung auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem), ein solcher Satz würde auch der heutigen Verfassung – dem Grundgesetz – gut stehen:

„Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern.“

Artikel 151 der Weimarer Verfassung von 1919

Umweltschutz, Klimawandel & Generationengerechtigkeit

Der menschengemachte Klimawandel ist die größte Gefahr (vielleicht neben der eines Atomkrieges) für Leben und Gesundheit, und letztendlich auch für den Fortbestand einer demokratischen Ordnung. Mit keinem Wort aber ist diese größte Menschheitsaufgabe des 21. Jahrhunderts (und wahrscheinlich auch noch des 22. Jahrhunderts …) im Grundgesetz erwähnt. Die schwammige Staatsziel-Bestimmung in Artikel 20a hat den gravierenden Nachteil, dass der dort genannte „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ eben kein einklagbares Recht ist. Dieses führt zu der paradoxen Situation, dass notwendige politische Maßnahmen mit Verweis auf bestehendes Verfassungsrecht, wie dem Recht auf Eigentum, ausbleiben. Dabei wäre es dringend nötig ein gesetzliches Verbot, weiterhin auf fossile Energieträger angewiesene Maschinen zu produzieren, einzuführen oder endlich ein Tempolimit für Autobahnen zu erlassen. Deswegen muss das einklagbare Recht kommender Generationen, in einer möglichst intakten Biosphäre auf dem Planeten Erde leben zu können, Verfassungsrang erhalten. Als kollektives Abwehrrecht gegen diejenigen, welche meinen, ihre Profite und Gewohnheiten seien wichtiger als die Lebensbedingungen künftiger Generationen.

Mehr Demokratie

Spätestens seit dem Brexit haben Abstimmungen über Einzelfragen keinen guten Ruf mehr, und tatsächlich: Die Meinungsmacht weniger Medien-Konzerne und die systematische Beeinflussung durch sogenannte „soziale Netzwerke“ wie Facebook, Instagram, Twitter & Co birgt erwiesenermaßen die Gefahr, dass Menschen gegen ihr ureigenen Interessen entscheiden. Allerdings passiert dieses bei jeder Wahl ja auch — und fast alle Bundesländer kennen zumindest landesweite Volksabstimmungen, zu bedenklichen Entscheidungen der Abstimmungsberechtigten ist es dabei noch nicht gekommen. Bundesweite Volksabstimmungen sind ein notwendiges Mittel, um die Demokratie zu beleben und Vorhaben, gegen welche sich große Mehrheiten in der Bevölkerung wenden, zu stoppen. Der ausgearbeitete Vorschlag des Vereins Mehr Demokratie e.V. ist eine gute Grundlage, um über die Ausgestaltung einer bundesweiten (halb-)direkten Demokratie zu diskutieren. Die Möglichkeit eines fakultativen Referendums, um bereits vom Bundestag beschlossene Gesetze zu bestätigen oder zu verwerfen, sollte dem Vorschlag dringend hinzugefügt werden — Unfug wie Hartz IV, die Vorratsdatenspeicherung oder fortwährende Angriffe auf die gesetzliche Rentenversicherung wären dann sicherlich nicht passiert.

Zu sehen ist der leere Plenarsaal des Deutschen Bundestages.Eine weitere große Gefahr für die Demokratie ist der zunehmende Abstand zwischen den Apparaten der politischen Parteien und den politisch interessierten und engagierten Bürgerinnen und Bürgern: In allen Parteien (ich nehme meine Partei aus dieser Kritik ganz bewusst nicht aus) dominieren Karriere-Netzwerke, Wahlkämpfe verkommen zunehmend zu Marketing-Aktionen. Der ursprüngliche Zweck und im Grundgesetz festgeschriebene Auftrag der Parteien, die politische Willensbildung, kommt zunehmend zu kurz. Lebenslange oder zumindest langjährige Politik-Karrieren sind, zumindest was den (derzeit gewaltig aufgeblähten) Bundestag angeht, eher die Regel als die Ausnahme: Knapp 63% aller Bundestagsabgeordneten sitzen bereits seit mehr als einer Wahlperiode im Parlament, knapp 40% sind häufiger als zwei Mal wiedergewählt worden, fast ein Viertel sitzt seit über einem Jahrzehnt im Bundestag. Dieses führt das demokratische Grundprinzip des Mandats auf Zeit ad absurdum, verhindert frische Ideen und trägt erheblich zur Entfremdung zwischen parlamentarischer Vertretung und Bevölkerung bei. Letztlich repräsentieren sich die parteipolitischen Apparate zunehmend selbst — so kann eine repräsentative Demokratie auf Dauer nicht funktionieren.

Für dieses Problem gäbe es eine recht einfache Lösung: Die Anzahl aufeinander folgender Mandate müsste begrenzt werden, zwei Legislaturperioden wären dabei ein guter Kompromiss (so wie beispielsweise in den Parlamenten zahlreicher US-Bundesstaaten). Zum einen würden die höhere Fluktuation dem politischen Prozess gut tun und eingefahrenes, auf Wiederwahl konzentriertes Denken eindämmen, zum anderen die Situation innerhalb der Parteien deutlich entspannen und diese wieder stärker zu einem Ort der politischen Ideen-Entwicklung machen.

Jeder Fortschritt wurde immer erkämpft

Natürlich ist die Aufzählung der oben gemachten Verbesserungsvorschläge für das Grundgesetz nicht vollständig, sondern stellt nur eine Auswahl von Themen dar, wo eine Veränderung und Verbesserung des Grundgesetzes und dann früher oder später auch der Verfassungswirklichkeit notwendig ist. Vieles, was uns heute selbstverständlich vorkommt, musste trotz geltendem Grundgesetz in den zurückliegenden 70 Jahren erkämpft werden: die Berufsfreiheit verheirateter Frauen, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, für die angeborene sexuelle Orientierung nicht im Knast zu landen — um nur einige Beispiele zu nennen. Solche Kämpfe werden auch in Zukunft nötig sein, um die Probleme der Gegenwart zu beheben. Gesellschaftlicher Fortschritt sollte sich dann aber auch in der geschriebenen Verfassung niederschlagen, damit das Rad der Geschichte (zumindest) nicht mehr so einfach zurückgedreht werden kann.

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