Es gibt Tage, die vergisst man nicht. Es gibt eine dauerhafte, unauslöschliche Erinnerung daran, was man zu dem Zeitpunkt tat, als man eine bestimmte Nachricht erhalten hat. Die allermeisten dieser Tage sind persönlicher Natur, manchmal aber auch weltbewegende Ereignisse. Der 11. März 2011 war für mich so ein Tag.
Damals arbeitete ich Teilzeit und hatte an diesem Tag frei. Ich habe ausgeschlafen und folgte meiner damaligen Gewohnheit, gleich nach dem Aufwachen den neben dem Bett stehenden Laptop aufzuklappen (ein Smartphone besaß ich damals noch nicht) und die gewohnte Nachrichtenseite aufzurufen. Für diesen Tag rechnete ich nicht mit einer interessanten Nachrichtenlage, aber man ist ja gerne auf dem Laufenden.
Mir fuhr ein ziemlicher Schrecken in die Glieder, denn ich las: „Eilmeldung: Schweres Erdbeben in Japan. Tausende Tote. Tsunami-Warnung aktiv. Schwerste Schäden, brennende Atomkraftwerke.“
Garniert war dieser Artikel mit dem Foto einer gewaltigen Rauchsäule über einer Hafenanlage. Auf ewig in Erinnerung werden mir aber die Worte „brennende Atomkraftwerke“ bleiben – zu dem Zeitpunkt gab es noch keine genaueren Informationen darüber, welche Art von Störfall sich möglicherweise wo ereignet hat. Den Ortsnamen Fukushima sollte die Weltöffentlichkeit erst Stunden später erstmals hören. Ich begann hektisch zu recherchieren, um genauere Informationen über die „brennenden Atomkraftwerke“ zu bekommen, konnte aber nichts aussagekräftiges finden. Es habe Notfallabschaltungen bei einzelnen Kernkraftwerken gegeben, wie bei einem Erdbeben vorgesehen. Ich gab mich der Hoffnung hin, dass die Überschrift eine Übertreibung gewesen ist und blieb über Stunden bei verstörenden Live-Aufnahmen hängen, wie sich eine gewaltige Flutwelle durch die nordjapanische Landschaft wälzte.
Zur damaligen Zeit war ich stark in der Anti-Atomkraft-Bewegung engagiert. Die Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke war erst wenige Monate zuvor in Kraft getreten. Ich hatte mich mehrmals an Protesten gegen die Castor-Transporte nach Gorleben beteiligt, war durch Wälder gerannt die von der Polizei unter Tränengas gesetzt wurden, damit sich niemand den Gleisen nähert (wir haben es trotzdem auf die Gleise geschafft). Noch immer konnte ich nicht schmerzfrei auf dem Bauch liegen, weil zwei durch „polizeilichen Vollzug“ angeknackste Rippen noch am verheilen waren (mich hatte eine kurz zuvor abgefeuerte Tränengasgranate an der Brust getroffen). Der Kampf gegen die Weiternutzung der Atomenergie war damals eines meiner Hauptthemen. Ich wollte unbedingt dazu beitragen, ein zweites Tschernobyl zu verhindern.
Und das zweite Tschernobyl geschah.
Genau genommen geschah sogar ein drittes und viertes Tschernobyl, denn in Fukushima kam es gleich in drei Reaktorblöcken zur Kernschmelze. Angeblich wegen der hohen Sicherheitsstandards völlig ausgeschlossen in einem westlichen Kernkraftwerk. Bis zu diesem 11. März 2011.
Am späten Nachmittag dieses Tages erfuhr ich dann erstmals von einer „schwierigen Situation“ und hörte zum ersten Mal den Ortsnamen Fukushima. Noch redete niemand von einem Super-GAU, auch in den zahllosen Sondersendungen im deutschen Fernsehen wurden zahllose (sogenannte) Experten befragt, die alle sagten: Alles nicht so schlimm, wir reden hier über moderne japanische Anlagen, nicht über sowjetische „Schrottreaktoren“.
Ich verließ mich nicht auf diese Beschwichtigungen und versuchte, auf erreichbaren japanischen Webseiten (was gar nicht so einfach war, da das Erdbeben natürlich auf viele Rechenzentren zerstört hatte) genauere Informationen zu finden – und fand sie. Die japanische Regierung hatte längst den nuklearen Notstand erklärt und Evakuierungen angeordnet, als im deutschen Fernsehen noch über „Auslegungsstörfälle“ und überlegene westliche Technologie schwadroniert wurde.
Tatsächlich sollte das volle Ausmaß der Katastrophe erst am folgenden Tag für alle klar werden, als vor laufender Kamera eine gewaltige Explosion das Reaktorgebäude 1 des Atomkraftwerks Fukushima erschütterte.
Das alles ist jetzt zehn Jahre her. Der Beginn der Atomkatastrophe von Fukushima. Niemand sollte glauben, die Katastrophe sei vorbei: Noch immer müssen die Reaktorruinen aktiv gemanagt werden, um weitere Freisetzung von Radioaktivität zu verhindern. Ein besonderes Problem stellen die über eine Million Tonnen radioaktiv verseuchten Wassers dar, für welches die Lagermöglichkeit ausgehen (ganz abgesehen von der Gefahr eines erneuten Erdbebens, welches die Tanks zerstören könnte). Die evakuierten Gebiete, Dörfer und Städte rund um die zerstörten Kernkraftwerke werden für Jahrhunderte oder noch länger unbewohnbar bleiben. Die Katastrophe hat gerade erst begonnen.
Ein Nachtrag: Erst Jahre später habe ich erfahren, wie es (vermutlich) zu der Schlagzeile von den „brennenden Atomkraftwerken“ kam. Im Kernkraftwerk Onagawa brannte als Folge des Erdbebens ein Turbinengebäude lichterloh, zum Glück kam es dort aber nicht auch zu einer nuklearen Katastrophe.